Thüringen, die Krise der CDU und die Demokratie
Die Thüringen-Krise ist zwar ein ziemlich unübersichtlicher Vorgang, und doch ein großer Moment der Kenntlichkeit. Nicht nur, dass sich politische Charaktere schärfer sehen lassen, nicht nur, dass man erfährt, was Glaubwürdigkeit wirklich bedeutet in einer solchen Lage. Hinter dem oft von medialer Aufregung begleiteten Hin-und-Her werden längere Linien sichtbar, die weit über diesen Erfurter Winter hinausweisen. Ein Versuch, etwas Ordnung ins Bild zu bringen.
An diesem Sonntag (23.2.2020) lässt sich Mike Mohring mit den Worten zitieren, er sei »mit dem klaren Versprechen angetreten, Rot-Rot-Grün in Thüringen zu beenden und nicht zu verlängern«. Da nun aber »eine wie auch immer geartete vertragliche Vereinbarung für eine Tolerierung« von Rot-Rot-Grün durch die CDU »im Raum« stehe, müsse er, da damit ein zentrales Wahlversprechen gebrochen würde, »auch mein Amt als Parteivorsitzender der CDU Thüringen« zurückgeben.
Hier spricht der Mann, der am Tag nach der Wahl im Oktober vergangenen Jahres meinte, angesichts der Mehrheitsverhältnisse im neuen Landtag werde sich die CDU nicht »in die Ecke stellen können, sondern wir müssen Verantwortung übernehmen«, ihm seien »stabile Verhältnisse wichtiger für das Land, als dass es nur um parteipolitische Interessen geht«. Die Bundesspitze der CDU pfiff Mohring damals zurück, hier liegt eine wichtige Mitverantwortung Berlins an der fatalen Komplizenschaft, welche die Fraktion mit den Rechtsradikalen am 5.2. einging.
Was Mohring betrifft ist aber anderes wichtiger: Hier spricht eine politische Figur, deren Taktieren und Äußerungen von Zielen getrieben wird, die man als rein oberflächlich, als dem Politischen auf gewisse Weise äußerlich bezeichnen könnte: Wie stehe ich in der Öffentlichkeit da? Was nützt mir persönlich? Wie kann ich im eigenen Interesse ein paar Kästchen auf dem politischen Millimeterpapier für mich herausholen?
Dass Mohring jetzt den Rückzug vom Parteivorsitz mit dem Bruch eines Wahlversprechens begründet, den er selbst begangen hätte, wäre er daran nicht von Außen und von einem Teil seiner eigenen Partei gehindert worden, bezeugt dies ebenso wie die Tatsache, dass ihm nicht einmal einzufallen scheint, dass es ja gerade der schändliche Versuch war, unter den gegebenen Verhältnissen dieses Wahlversprechen zu erfüllen, nämlich Rot-Rot-Grün mit Stimmen der Rechtsradikalen abzulösen, der erst in die Krise führte, deren Personenopfer Mohring nun wird.
Am Beispiel Mohring, und er ist dafür nur eine der augenfälligsten Figuren, nicht die einzige, lässt sich außerdem zeigen, wie leer die großen Worte sind, die in der politischen Arena herumgereicht werden. »Verantwortung übernehmen«, »stabile Verhältnisse«, Zurückstellung parteipolitischer Interessen — in der CDU ist von maßgeblichen Akteuren auf Landesebene und im Bund zwar viel davon gesprochen worden, aber das genaue Gegenteil wurde gemacht. Abgesehen von jenen, die nun versuchen, über eine Kooperation mit Rot-Rot-Grün Verantwortung zu übernehmen, hat CDU-Gebaren im eigenen parteipolitischen Interesse dazu geführt, dass Thüringen gerade ziemlich instabil ist.
Es geht hier nicht darum, alle anderen Beteiligten, zumal FDP und AfD, von einem kritischen Blick auszunehmen. So sehr deren Betragen vor allem am 5.2. zu der Lage beigetragen hat, so sehr ist es aber diese Lage, die den Fokus auf die CDU richtet. Denn die Thüringen-Krise ist vor allem eine Krise der CDU, und das hat weit über den Freistaat hinaus Bedeutung. Der angekündigte Rückzug von Annegret Kramp-Karrenbauer ist dafür sinnfälliger Ausdruck, aber eben auch nur ein Symptom. Die Vorgänge in Erfurt beschleunigen Prozesse der Neuordnung, es liegen nun schon länger offene Richtungsfragen zur Beantwortung vor: Wohin geht die CDU?
Wenn nun ein Teil der Bundesspitze auf die Einhaltung eines Abgrenzungsbeschlusses pocht und dies mit der Wertesubstanz der Union begründet, sollte man darin noch nicht eine Antwort auf die Frage sehen. Eher dient dies dazu, diese aufzuschieben.
Wenn Paul Ziemiak oder Jens Spahn und andere nun gegen den Weg der »konstruktiven Opposition« der Thüringer CDU votieren, stehen sie wie kleine Kaiser nackt da. Entweder erweist sich ihre Schlussfolgerung, es müsse stattdessen schnelle Neuwahlen geben, als unlogisch — denn diese kann auch nur herbeigeführt werden, indem der Abgrenzungsbeschluss, der auch in einer solchen wichtigen parlamentarischen Frage gelten sollte, gebrochen wird. Oder es verhält sich wie bei Friedrich Merz, der jegliche, selbst eine derart lose Kooperation, als Beschädigung der Glaubwürdigkeit der CDU darstellt, aber keine Schlussfolgerung aus seinem dann folgenden Satz zu ziehen in der Lage ist: »Die Thüringer CDU hätte sich von Anfang an niemals auf den verächtlichen Umgang mit unserer Demokratie durch die AfD einlassen dürfen.«
Schon richtig, aber was ist die Konsequenz? Maßgebliche konservative Kommentatoren haben dies in den vergangenen Wochen immer wieder formuliert. Frei von taktischen Selbstbeschränkungen, die man bei den um den CDU-Vorsitz rangelnden Spahns und Merzens mitdenken muss, frei von opportunistischem Parteidenken, das wie es bei Ziemiak erscheint, lieber das ostdeutsche Thüringen in Flammen stehen lässt, als kontroversen Qualm in westdeutschen Landesverbänden hinzunehmen, haben sie auf das hinter dem Tagespolitischen liegende verwiesen: Die AfD ist eine Partei der Zerstörung der Demokratie, es muss wieder zum Tabu werden, mit diesen Leuten zu paktieren. Denn es geht dabei um den Erhalt der Republik und der Demokratie als Lebensform, den Voraussetzungen also, ohne die politische Kompromisssuche, demokratische Verfahren und Handlungsfähigkeit nicht zu denken sind. Dies in Rechnung gestellt, bedarf es einer Neubewertung der Linkspartei, die Kooperationen in den Fällen möglich macht, in denen es um diesen Erhalt der Republik geht.
Jasper von Altenbockum von der FAZ hat den als »Stabilitätspakt« bezeichneten Einigungsversuch zwischen Rot-Rot-Grün und CDU als einen »Pakt im Sinne der Landesverfassung« bezeichnet, »die sicherstellen will, dass es eine demokratische Regierung in Erfurt gibt«. Schon deshalb sei es »ideologische Verblendung, wenn Ramelow zum verkappten Kommunisten gestempelt wird, mit dem es keinerlei staatstragendes Übereinkommen geben kann. Ramelow gar mit Björn Höcke von der AfD gleichzusetzen, verbietet der demokratische Anstand.« Und weiter: Die CDU sei »so tief gesunken, weil sie nicht erkennen wollte, dass die AfD die Cholera ist, die Linkspartei aber nicht die Pest«. Auf das Veto von Jens Spahn, was die Übereinkunft vom Freitagabend angeht, reagierte von Altenbockum mit den Worten: Eine »Auflösung des Thüringer Landtags« wäre »eine Kapitulation der demokratischen Fünf-Fraktionen-Mehrheit vor der AfD«.
Wenn hier von einer »demokratischen Fünf-Fraktionen-Mehrheit« die Rede ist, meint das nicht Übereinstimmung in allen Fragen, nicht einmal in den meisten, es heißt auch nicht, dass man sich als politische Freunde betrachtet. Es heißt aber, dass eine Grenze zu den Rechtsradikalen gezogen wird, weil diese die Voraussetzungen des Streits zerstören wollen, den man um der Demokratie willen hier einmal hinter »parteipolitischen Interessen« stellen muss. Hier und nirgends anders liegt die Bedeutung der oft zitierten »stabilen Verhältnisse«, dass nämlich aus einer komplizierten Mehrheitssituation nicht eine demokratische Krise wird. Das ist auch die »Verantwortung«, die nun zu übernehmen wäre — und man sollte nicht glauben, dass dies zum Beispiel der Linkspartei, wenn damit einhergeht, der CDU die Hand zu reichen, leichter fällt.
Thomas Schmid, Herausgeber der »Welt«-Gruppe, hat es einen »unverzeihlichen Fehler« genannt, wie sich CDU und FDP in Thüringen am 5.2. verhalten haben. Er hat aber auch geschrieben: »Das Schöne an Demokratien ist, dass sie die Korrektur von Fehlern zulassen.« Es ist dies ein Hinweis auf die mögliche Richtung, in welche die CDU gehen könnte. Eine Richtung, die einzuschlagen ihr vieles abverlangen würde, das ist auch wahr. Abschied vom altbundesrepublikanischen Antikommunismus; Abschied vom unhaltbaren Hufeisen-Denken, Anerkenntnis eines demokratischen Verfassungsbogens, der die Linkspartei einschließt und damit auch die vom Grundgesetz geschützte Idee, die gesellschaftlichen Verhältnisse auf demokratischem und rechtsstaatlichem Wege anders zu gestalten, als es die Union zu denken wagt.
Aber, um noch einmal dieses Wort zu strapazieren: Genau dies müsste jetzt tun, wer »Verantwortung übernehmen« will. Die CDU hatte immer Schwierigkeiten, sich an neue Umstände anzupassen. Es gelang ihr dies dann am ehesten, wenn damit Machterhalt einherging. »Angela Merkel konnte mit einer Reihe konservativer Gewissheiten brechen und die CDU modernisieren, weil sie dadurch das Kanzleramt behauptete«, so hat es Horst Kahrs formuliert. Eine Folge davon war, dass rechts neben der CDU eine Partei wachsen konnte, der es erstmals seit langem auf diesem hohen Niveau gelang, autoritär, nationalistisch, regressiv denkende Milieus auch parlamentarisch zu repräsentieren. Die Häutungen dieser Partei sind womöglich noch nicht abgeschlossen, aber es ist auch kein Zweifel mehr an ihrem Charakter zulässig. Diese Partei will die Demokratie zerstören, ihre Hetze ist reale Mordbrennerei, sie gefährdet das Leben von Menschen.
Das ist der Hintergrund, vor dem man Thomas Schmids Satz lesen muss, in dem es heißt, »will man es nicht mit der AfD versuchen, dann führt in Thüringen derzeit kein Weg daran vorbei, sich in irgendeiner Form mit der Linken ins Benehmen zu setzen«. Und das gilt über Thüringen hinaus. Die Folgen wären für die CDU sicher gravierend, etwa würde das Risiko von Abspaltungen wachsen, die Partei riskiert Verluste bei Wahlen, bei ihr würde die sprichwörtliche Hütte brennen. Aber darin liegt der Sinn von »Verantwortung übernehmen«.
Eine Alternative, die diesen Namen verdient, gibt es nicht. Setzt die CDU die Hängepartie aus Orientierungslosigkeit, kurzfristigem Opportunismus und Taktieren zu lange fort, die schon seit dem Aufschein der Post-Merkel-Ära läuft, wächst die Gefahr der »Übernahme« durch eine autoritäre Führerfigur nach dem »Modell Kurz«. Entscheidet sich die CDU für eine Öffnung in Richtung AfD, wäre dies nicht nur »eine Kapitulation« vor den Rechtsradikalen (von Altenbockum), sondern die CDU stünde dann abseits der Verteidigung des demokratischen Lagers.
Das wäre für die Demokratie fatal, und deshalb liegt es auch im Interesse von Linken, dass die CDU sich für den Weg entscheidet, den Schmid, von Altenbockum und zum Glück auch nicht wenige CDU-PolitikerInnen weisen. Auch das progressive Lager hat hier eine »Verantwortung«, die wahrzunehmen eine Frage der »Glaubwürdigkeit« ist, auch wenn dies mit manchen bisherigen »parteipolitischen Interessen« in Konflikt gerät — nämlich dazu beizutragen, die politische Krise, die nicht nur eine in Thüringen ist, konstruktiv zu wenden.