Fundsachen: Grüne Macht, linke Macht

Tom Strohschneider
2 min readJan 9, 2021

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Robert Habeck hat aus seinem in der kommenden Woche erscheinenden »Von hier an anders« einen Auszug veröffentlichen lassen. Die Passagen drehen sich nicht zufällig um die Rolle von Macht in der Demokratie — zum Auftakt eines Wahljahres, in das die Grünen mit einem Führungsanspruch gehen. »In einer Demokratie gibt es keine vorpolitische Wahrheit. Politik schafft Werte, sie bildet sie nicht ab. Das ist ihre Macht. Und wenn neue Werte handlungsleitend werden müssen, dann muss auch Macht neu gedacht und neu definiert werden«, schreibt Habeck. Und weiter: »Die Machtfrage, also wie Macht funktioniert und ausgeübt wird, scheint mir manchmal der blinde Fleck gerade progressiver Politik. Während Konservative und erst recht die Rechtspopulisten faktisch nichts anderes tun, als über Strategien der Macht nachzudenken und sie anzuwenden, ist Macht in meinem Milieu immer noch ein verpöntes Wort.«

Es gibt einen guten Grund, an dieser Stelle nicht gleich in linke Ohnmacht zu fallen, sondern neugierig zu sein. Macht? Die Lagebeschreibung Habecks trifft ja durchaus auch auf das Umfeld der Linkspartei zu. »Die Linke muss sich stärker als bisher in ihren Analysen und in ihrer Praxis der Frage von Macht widmen — der eigenen, und der Macht der anderen«, so hat es Paul Wellsow nach dem Tabubruch vom 5. Februar 2020 in Thüringen formuliert. »Rückblickend war es ein Erfolg und ein Zeichen von politischer Stärke, Kemmerich zum Rücktritt gezwungen und den Griff nach der Macht zurückgeschlagen zu haben. Zu fragen ist jedoch: Gelingt das notfalls ein weiteres Mal oder war dieses Experiment nur ein Zwischenschritt zur weiteren Normalisierung der radikalen Rechten?«, schreibt Wellsow an anderer Stelle. »Wenn wir zudem unsicher sind, ob ein solcher Griff nach der Macht von rechts auch beim nächsten Mal oder in einem anderen Bundesland noch einmal zurückgeschlagen werden kann, dann ist es jetzt die Aufgabe von Linken, sich ins politische Handgemenge zu begeben und eine linke Antwort zu formulieren. Die kann nur sein, für Mehrheiten links der ›Mitte‹ nicht nur zu werben, sondern sie zu realisieren.«

An dieser Stelle geht eine negative Bestimmung von progressiver Macht, nämlich die Ausübung derselben durch andere zu verhindern, in eine positive über: Wozu kann in welcher Weise »linke Macht« ausgeübt werden? Habeck beantwortet den ersten Teil der Frage mit dem Beispiel, das verlorene Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft, insbesondere der Finanzwirtschaft, wieder zurückzuerobern; den zweiten Teil mit einem sprachkundlichen Hinweis: »Der Begriff ›Macht‹ geht im Deutschen tatsächlich auf das Verb ›machen‹ zurück. Man kann ›machen‹ synonym mit ›können, bilden, fähig sein‹ verwenden. Im Verb bildet sich sowohl ein unmittelbarer Bezug zu Dingen als auch zu sozialen Beziehungen ab… Durch das Machen bildet sich eine Beziehung. Und zwar eine Beziehung, die einer Fähigkeit Ausdruck verleiht… Macht ist eine schaffende, die Gesellschaft konstituierende und formende Kraft. Sie strukturiert eine Gesellschaft, indem sie Aufgaben und Arbeiten aufteilt. Eine soziale Beziehung, die ordnet und die Komplexität unseres Alltags reduziert. Ohne Macht kein Miteinander.«

Das sind Überlegungen zum Thema Macht, die einen gewissen Abstand zu theoretischen Ausgangspunkten etwa bei Marx, Poulantzas, Gramsci oder Foucault haben. Aber das dürfte ja kein Argument gegen Wellsows Rat sein: Die gesellschaftliche Linke sollte sich stärker als bisher der Frage von Macht widmen.

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