Es braute sich da was zusammen

Tom Strohschneider
12 min readDec 19, 2019

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Über den Tag, an dem Helmut Kohl vor 30 Jahren in Dresden den Willen verspürt, den dort »ein Volk« verströmt. Und über die schwierige Frage, wie rechts eine linke Revolution werden konnte.

Wann ist das alles eigentlich gekippt damals 1989? Wann war dieser eine Traum endgültig aus, der von einer eigensinnigen, linken, bürgerbewegten Revolution? Wann war aus »das Volk« unwiderruflich »ein Volk« geworden? In den Fragen wohnt wohl schon ein Irrtum, denn der Traum war immer der einer Minderheit, er hatte die Hand der Hoffnung aber nicht den Fuß zum länger stehen in windigen Zeiten. Er war von der Euphorie der geöffneten Fenster getrieben. Aber als man dann erstmals richtig tief die Luft eingesogen hatte, die da reinströmte, konnte man auch den Mief riechen, und der war schon länger da. Viel länger.

Vor ein paar Jahren entstanden diese Zeilen: »Das Aufbegehren 1989 begann weit links von dem, was heute in der herrschenden Erinnerung davon übrig gelassen wird. Im Prinzip ging es um Ziele, die wir heute unumwunden als linke, als progressive Forderungen bezeichnen würden — aber nur selten wird dies ausgesprochen.« Und weil das so ist, schrieb ich damals, »wird es vor allem denen einfach gemacht, die die Welt vom Ausgang der Geschichte her bejubeln: Wir sind ein Volk. Schwarz-Rot-Gold, D-Mark. Nationale Freiheitsbewegung.«

Dieser offizielle erinnerungspolitische Schiefbau ermöglicht bis heute, dass sich allerlei Leute auf »die Menschen in Ostdeutschland« in berufen, die »1989 auf die Straße gegangen sind«. Natürlich die Bundesregierung, da wird das ganze Erinnern dann wieder Staatsbürgerkunde. Gerade erst die FDP, die mit dieser Vereinnahmung gegen die angeblich »kommunistische« Politik des rot-rot-grünen Berliner Senats polemisierte. Und seit geraumer Zeit auch die AfD, deren Sehnsucht nach der nächsten Revolution einem Angst machen muss. Dass die Rechtsradikalen gerade auch im Osten reüssieren, hat hier und da die Frage geweckt, ob und was das mit der DDR und der Wende zu tun haben könnte, oder dem, was ihr folgte: Treuhandanstalt und so weiter. Dabei so oft und nervend diese Vereinfachungen, darin bestehend, »die Ostdeutschen« aufs neue zwangszukollektivieren, ihnen das Pegidatum als Gruppeneigenschaft anzuhängen.

All das weckt innere Abwehr, hat man 1989 doch anders im Kopf und im Herz sowieso. Aber das ändert nichts daran, dass die Fragen weiterbohren: Wie viel »rechtes Zeug« war da eigentlich drin und ab wann, in dieser Wende, von der wir glaubten, sie wäre ein linker Aufbruch, bis »ein Volk« sie dann zu ihrer machte, ohne etwas dafür zu tun, außer nun auch auf die Straßen zu strömen, als es keinen Mut mehr erforderte, und die dann mit den Fahnen eines anderen Landes herumwedelten, wo es die härtere Währung gab?

Ach, immer diese Raster. Natürlich war »die Wende« nicht rechts, aber etwas an ihr, mancherorts viel weniger und anderswo schon früher und schwarzrotgoldner. In Dresden zum Beispiel, und davon erzählt Peter Richter.

»Die Leute sahen aus wie auf dem Weg zur Kirche, und sie schauten, als würden sie, diesmal, wirklich dran glauben«, heißt es in »89/90«, einem Roman. »Im Bus, in der Bahn, auf den Straßen eine stille Vorfreude, aber von heiligem Ernst; kein Lachen war zu hören, kaum profanes Privatgespräch… dann das massenhafte Männchenmeer… die meisten kamen beflaggt, wie zum Ersten Mai, hatten Fahnen dabei, schwarz-rot-gold ohne Hammer und Sichel im Ährenkranz… Das Ergreifendste, das Erschütterndste, das Erhabenste an der Sache war aber dies: wie leise es war. Vielleicht hunderttausend Menschen — und kaum ein Mucks zu hören. Immer mal wieder ein Deutschland, einig Vaterland. Aber wie von einem Vorsänger. Ansonsten hielten die Leute im Wesentlichen den Rand, wie aus Angst, es könnte irgendeines der wertvollen Worte, die hier heute erwartet wurden, durch Schwatzhaftigkeit verloren gehen und damit ungültig werden. Und ausgerechnet an der allerstillsten Stelle dieser zum bersten aufgeladenen Gottesdienststille krähte jemand: Da kommt ein Roter! Und damit war ich gemeint… Es braute sich da was zusammen. Und ich war dankbar, als vorne Jubel und Beifall aufkamen. So weit war es gekommen: Plötzlich galt man als Roter. Und Helmut Kohl musste kommen, um einem mit seinem Auftritt das Leben zu retten.«

Es hatte sich da was zusammengebraut. Seit wann? In den kritischeren Darstellungen zur Geschichte der DDR wird nicht nur auf die widersprüchliche Rolle eines Staats-Antifaschismus verwiesen, sondern werden auch die rechtsradikalen Aktivitäten beschrieben, die es lange vor »unserer Revolution« gab, brutal und rassistisch. Harry Waibel hat dazu geforscht, Konrad Weiß schon Anfang 1989 in »Kontext« geschrieben: »Die Drahtzieher und führenden Köpfe des neuen Faschismus in der DDR sind nicht im Westen zu suchen«, heißt es da. »Sie sind das Produkt unserer Gesellschaft.« Die Stasi wusste viel länger davon. Die SED wollte davon nichts wissen.

Aber das ist eine andere Geschichte, auch wenn sie mit der Frage ja irgendwie zusammenhängt, wie rechts die Wende war. Es geht nicht (nur) um Naziskins und die rechte Straßengewalt, die dann in die »Baseballschlägerjahre« mündeten. Was Peter Richter da aus Dresden beschreibt, führt noch woanders hin: in die »Mitte der Gesellschaft«, wie man heute sagen würde, vor allem weiter in die Geschichte zurück, noch vor die Wende und ihre Folgen.

Erstens: Die Opposition, so hat es Oliver Reinhard einmal beschrieben, war »mitnichten nur bürgerrechtsbewegt, reformsozialistisch-demokratisch«, sondern: »Da gab es auch jene, die in stiller Nische vom deutschen Kaiserreich träumten — und jene, die heimliche Nazis waren.« Der Historiker Martin Sabrow meint, und das wäre zweitens: »Dass sich die Zentren des mutigen Aufstandes gegen des SED-Regimes außerhalb Berlins mit den Hochburgen der rechtspopulistischen Erregung heute vielfach überlappen, ist ein soziologischer Befund, der nicht die Freiheitsbewegung von 1989 diskreditiert, aber weitergehende Schlussfolgerungen erlaubt.« Zu denen gehört, drittens, worauf Christian Booß einmal verwies: »Revolutionen setzen zunächst nur das Potential in Gesellschaften frei, was sich unter dem Deckel von mehr oder minder autoritären Regimen entwickelt hat. Die DDR-Revolution profitierte stark davon, dass sich mit der sogenannten Kirchenopposition eine Zwischenelite herausgebildet hatte, die die Zivilität der Abläufe von 1989 garantierte. Was aber motivierte die anderen? Es geht hier nicht darum, aus der Hälfte der Ossi Altnazis zu machen. Aber angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen muss die Frage erlaubt sein, ob im Überschwang der revolutionären Veränderungen und der deutschen Vereinigung nicht schrille Töne überhört wurden. Manche Parole, die auf den Montagsdemonstrationen mehr gegrölt als gerufen wurde, war schon damals eher nationalistisch.«

Es hatte sich da was zusammengebraut. Peter Richter beschreibt in seinem Roman den Auftritt von Helmut Kohl am 19. Dezember 1989. Der Kanzler spricht dort von deutscher Geschichte, von Toten und Leid und deutscher Verantwortung: »Blickte der da gerade zu uns? Sah der uns? Die Rechten um uns herum? Sah Kohl plötzlich, was hier Sache war? Ich hatte wirklich für einen Moment den Verdacht, Kohl blickt durch, Helmut Kohl weiß, was los ist.« Und dann weiter: »Geschubse, ein paar Tritte in den Hintern, Kinnhaken, blaue Augen. Wie wollen uns mal nicht beschweren. Es ist für den weiteren Verlauf der Weltgeschichte auch nicht weiter von Interesse, wie es uns an dem Abend so ging. Entscheidender ist, was er, Helmut Kohl, erlebte. Der würde später nämlich behaupten, dass er hier, an diesem Tag, von den himmelnden Menschenmassen den Auftrag zur Herstellung der Einheit Deutschlands empfangen habe. Das Volk habe Willen verströmt, er ihn verspürt.«

Von der friedlichen zur nationalistischen Revolution? So war vor ein paar Jahren eine Radiosendung betitelt, die sich darum drehte, »dass der Protest von Rechten unterwandert war. Und dass es eine Traditionslinie von 1989 zu den Pegida-Aufmärschen heute gibt«. Einer erzählt dort, wie »bei den ersten ›Wir sind ein Volk‹-Rufern dann die Schilder ›Deutschland in den Grenzen von so und so 1939 — bis 1945‹« auftauchten, Leute, die 25 Jahre später bei Pediga wieder aufgetaucht seien und nun meinten, »Ihr wart immer die, die die Kerzchen gehalten haben, ihr Gutmenschen. Ich wollte gleich so ein schönes großes starkes Deutschland. Und ihr wolltet das verhindern.«

Oder, wie es bei Peter Richter steht: »Plötzlich galt man als Roter.« Richter war auch bei der Diskussion dabei, um die es in besagter Radiosendung ging. »Sieht er denn Parallelen zwischen den Ereignissen damals und heute?« Die sieht auch er: »Es ist schon genau das Volk, was damals auch auf der Straße war. Was damals die Revolution getragen hat. Wenn uns heute unheimlich ist, was da passiert, dann wirft das ein Bild auf das, was damals passiert ist. Vielleicht müssen wir auch unser Bild von der Friedlichen Revolution ein bisschen differenzierter künftig malen.« Und Harry Waibel meinte auch schon 2015: »Dass diese rechte Bewegung aktiv war in allen Bezirken der DDR und sich in allen Bezirken sich zugespitzt hat bis Ende der 1980er Jahre.«

Ein bisschen differenzierter malen, das ist ja gar nicht so einfach. Es gab Rechtsradikale praktisch überall in der DDR, Neonazibanden, Faschisten hier und da. Aber die waren im Winter 1989 weder in Dresden noch anderswo die Mehrheit auf den schwarzrotgold gewordenen Aufmärschen. »Die Skinheads, die uns umzingelt hielten, kratzten sich an den Glatzen«, schreibt Peter Richter. Aber »das massenhafte Männchenmeer« war anders, es rüttelte »an den Krawattenknoten, die Damen befühlten die frische Frisur«.

Bei Konrad Weiß findet sich der ein Jahr vor dieser Dresdner Kohlmesse im November 1988 aufgeschriebene Hinweis, der das eine, die »rechte Bewegung«, und das andere, die heimlich sympathisierenden Bürger, zusammenbringt: »In Arbeits- und Ausbildungskollektiven erfreut sich der Rechtsradikalismus ohnehin einer zunehmenden Akzeptanz. Die antifaschistische Abwehrfront in der Bevölkerung, so ein Insider, bröckelt ab. Das hängt ganz sicher mit den Werten zusammen, die von den Faschos propagiert werden. Dem unpolitischen Betrachter, dem Kleinbürger zumal, erscheinen sie offenbar als arbeitssame, ordentliche, disziplinierte junge Mitbürger, die nicht einfach in den Tag hinein gammeln, sondern wissen, wofür sie leben. In der Tat wendet sich die neue Rechte vehement gegen die ansonsten recht verbreitete Null-Bock-Ideologie, gegen Ausreiser und Aussteiger, gegen eine gewisse Larmoyanz und Resignation mancher alternativer Gruppen.« Weiß’ Text trägt die Überschrift: »Die neue alte Gefahr«.

Zum offenen Ausdruck kam das aber nie überall gleichermaßen, auch nicht im Winter 1989. Wer die »Chronik der Wende« von Hannes Bahrmann und Christoph Links liest, bekommt einen Eindruck davon, wie sich dieses »ein Volk«, wie sich diese »gewisse Grundaggressivität«, von der Peter Richter mit Blick auf das Marschieren »hinter der Deutschlandfahne« spricht, langsam ausbreitet, immer deutlicher wird, immer lauter. Aber auch nicht überall gleichermaßen. Dresden ist nicht Leipzig ist nicht Berlin ist nicht Rostock. Und alle sind nicht Plauen, der Stadt, in der nicht nur mit am frühesten demonstriert wurde in der DDR, sondern am frühesten auch gegen sie und für eine »Wiedervereinigung«.

Apropos Plauen. Christian Booß hat den Befund »verstörend« genannt, »dass die Demonstrationsdichte 1989 vor allem in Westsachsen besonders hoch war, und damit genau in den Regionen, in denen das Bürgertum 1932 stark nach rechts Amok lief. Plauen, 1932 eine Stadt mit über 50 Prozent NSDAP-Wählern, war am 7.10.1989, auf die Bevölkerung bezogen, die Stadt mit den meisten antikommunistischen Demonstranten.« Natürlich weiß auch Booß, »es dürfen, das zeigt nicht zuletzt dieser demoskopische Irrtum, keine einfachen Linien aus der Vergangenheit gezogen werden. Krieg und Nachkriegszeit haben die Bevölkerung stark durcheinandergewirbelt.« Aber zugleich gibt es »die unterhalb der öffentlichen Meinungen und der Staatsräson in Ost und West erhalten gebliebenen nationalistischen, völkischen, auch rassistischen Haltungen und Mentalitäten«, wie das Horst Kahrs formuliert hat: »Entsprechende Mentalitätsmuster, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen und über Familien- und Milieustrukturen vererbt werden, überdauerten sowohl Alt-BRD wie DDR.«

Christian Booß hat an die inzwischen teilweise veröffentlichten Briefe an die SED-Führung erinnert, die »mit Formulierungen wie ›sowjetische Bestien‹ oder ›raffende Polacken‹ und ihren Rufen nach Recht und Ordnung« zeigen würden, »dass es unter den SED-Regimekritikern einen durchaus braun geprägten Bodensatz gab«. Und weiter: »Offenkundig entpuppt sich nicht jeder Gegner der SED-Diktatur schon als ein traditioneller Demokrat.« Das läuft nicht nur, worauf Booß hinweist, auf die Frage hinaus, inwieweit »die Aufarbeitung auf dem rechten Auge blind« war. Immerhin konnte praktisch jeder »Widerstand gegen die SED-Diktatur« auf Beifall hoffen, weil er in Legitimationsraster passte, welches in Bezug auf die DDR stets ein Delegitimierungsraster war. Es steckt auch die Frage darin, wie von links an einen politischen Aufbruch erinnert werden kann, dessen Ursprünge so progressiv waren wie der Fortgang dann schnell von einer Mehrheit dominiert wurde, die etwas ganz anderes wollte.

Die Frage ist keine einfache auch deshalb, weil der Hinweis auf die erst unterschwellige, bald offene »rechte Dimension« dieser Wende sich auf schräge Weise wie die letzten Zuckungen der SED-Propaganda anhört, welche die »antisozialistischen Elemente« ja auch als rechte Erscheinungen sah — nur damit andere meinte, denn die Schwarzrotgold-Fahnenträger kamen erst später auf die Demos, da hatte bei der Staatspartei längst die endgültige Implosion angefangen.

»Es hatte sich da was zusammengebraut.« Peter Förster und Günter Roski, welche die Ergebnisse einer Reihe von Umfragen in der »DDR zwischen Wende und Wahl« zusammengefasst haben, zeigen beide Phasen dieses »Brauvorgangs« — den älteren, historischen und den unmittelbaren des Winters 1989/90. Als ein Beispiel für Letztere dient der rasche Wandel der Meinungen zur Vereinigungsfrage: »In einer Ende November 1989 erhobenen Umfrage sagten 16 Prozent, sie seien sehr dafür, 32 Prozent meinten, sie seien eher dafür als dagegen. In Umfragen, die Ende Februar/Anfang März bzw. im April erhoben wurden, sagten bereits 84 bzw. 85 Prozent, sie seien für oder eher für eine Vereinigung.« Nun ist dies nicht einfach gleichzusetzen mit rechtem Denken, aber in den »entscheidenden Veränderungen im Meinungsbild« vor allem zwischen November 1989 und Anfang Februar 1990 ist dieses sicher ein Faktor. Mit Blick auf langfristige Prägungen kann man bei Förster und Roski unter anderem lesen: »Das rechte und ultrarechte Spektrum war latent in den alten Gesellschaftsstrukturen vorhanden.« Man könne es »nicht schlechthin den Turbulenzen des Umbruchs« zuordnen, es handele sich auch um Einstellungen und Denkmuster, die »im alten System sozusagen auf ›Sparflamme‹ vorhanden« gewesen waren und »nach der Wende eine Wiederbelebung« erfuhren. »Es handelte sich um Eigenproduktion im alten System, nachweisbar auch personell und in Institutionen.«

Wie ist das also mit dem Bild von der Friedlichen Revolution, wie malt man es »ein bisschen differenzierter«? An dem Tag, an dem Helmut Kohl den Willen verspürt, den das Volk verströmt, wird auch in Rostock demonstriert — gegen eine Vereinnahmung der DDR. Tags zuvor hatte sich das Berliner Neue Forum von denen distanziert, die Hass, Panik und nationalistische Stimmungen schüren. »Vereinigung jetzt bedeutet für einige schnellen Wohlstand, für viele aber Arbeitslosigkeit, Verzicht auf: Mitbestimmung, Mietwucher und darüber hinaus Legalisierung neofaschistischer Parteien und Organisationen«, hieß es in einer Erklärung. Als am 19. Dezember 1989 auch in Ostberlin 50.000 auf die Straße gehen, um »für eine souveräne DDR, gegen Wiedervereinigung und einen Ausverkauf des Landes« zu protestieren, wird der Redner von Demokratie Jetzt niedergepfiffen, »als er versucht, den Drei-Stufen-Plan seiner Organisation zur Wiedervereinigung vorzustellen«.

Die Stimmung kippt, aber sie kippt nicht überall in dieselbe Richtung, nicht überall zugleich. Nach dem Mauerfall und dem Zehn-Punkte-Plan Kohls war die »deutsche Frage« selbstverständlich zu einer der zentralen der nun in ihre soundsovielte Phase eingetretenen Wende geworden. Aber das, was da zum Ausdruck kam, wie es zum Ausdruck kam und was das für heute noch heißen mag, lässt sich nicht verallgemeinern. Vor allem würde man sogleich neue blinde Flecken produzieren, wenn man nur auf den Osten blicken würde. Jürgen Habermas hat schon 1990 kritisiert, »im Hinblick auf die deutschdeutsche Währungsunion können sich nun alle Deutschen mit der Potenz eines erweiterten Imperiums der D-Mark identifizieren. Die Allianz für Deutschland scheint dieses brachliegende Gefühlsgelände, wo aus der Arroganz einer wirtschaftlichen Vormachtstellung nationalistische Blüten sprießen, schon erschlossen zu haben.« Sie erschloss es im Osten, aber sie war keine auf Ostdeutschland begrenzte Angelegenheit.

Ursula Bub-Hielscher, die als Westjournalistin unter anderem über eine Montagsdemo in Eisenach berichtet hatte, erinnert sich daran, »eine untergründige rechte Stimmung wahrgenommen« zu haben, die sich vor allem in der Haltung »D-Mark her«ausgedrückt habe. »Leider ging ich dem nicht nach«, twitterte sie unlängst. Harry Waibel hat es schon 2015 einmal als »fragwürdig« bezeichnet, dass diese Dimension der Friedlichen Revolution, »nicht gegeben hat. Bis heute will man das nicht wissen.« Nun, ganz so ist es vielleicht nicht mehr, und das hat mit Pegida und den späteren AfD-Erfolgen zu tun, in denen immer noch die Frage steckt: »Wo kommt das her?« Oft ist darauf auch mit der Antwort reagiert worden, es habe mit den sozialen und ökonomischen Folgen eben jener Einheit zu tun, nach der damals immer lauter gerufen wurde.

Der 19. Dezember 1989 ist 30 Jahre her. Eine bizarre und beängstigende Messe vor der Ruine der Frauenkirche in Dresden, auf der, wie es Peter Richter in seinem Roman so schön illustriert, Deutschland, verkörpert auf der Bühne von Kohl, der bei seiner Rede immer größer wurde, während derjenige, der das Land verkörperte, das gerade revolutionierte, also Hans Modrow, immer mehr schrumpfte. »Der Staatschef der DDR stand rum wie einer, der dankbar sein konnte, dass er überhaupt auf die Tribüne durfte«, heißt es bei Peter Richter. »Gott segne unser deutsches Vaterland! DAS war der Satz, den die Leute hören wollten, das war der Satz, bei dem die Hölle losbrach. Und das war der Satz, bei dem wir lieber losrannten.«

Und das Ende der Geschichte? Was als Tragödie sich ereignet, trägt die Farce in sich. Ach, ihr Widersprüche. Kohl hatte den Willen gespürt, den das Volk verströmte. »Von unserem kleinen Grüppchen, nur um das mal klargestellt zu haben, hatte Kohl den Auftrag an jenem Tag nicht. Wir waren nur möglicherweise diejenigen, die am meisten davon profitiert haben. Während die, die damals mit ihren Deutschlandflaggen auf uns eingeprügelt haben, zügig arbeitslos werden, der DDR nachheulen und Westdeutsche rein fürs Westdeutschsein anfeinden sollten, haben die meisten von uns sich die Welt angesehen und es im Westen überwiegend ganz gut gehabt. Im Grunde wäre es heute an der Zeit«, schreibt Richter weiter, »dem Herrn Dr. Kohl mal ein Dankeschön auszusprechen dafür und auch dem Fahnenvolk, das ihn dazu getrieben hat. Aber damals wollten wir noch nicht heim in seine Bundesrepublik, damals wollten wir, wie Kinder, die von ihren Müttern reingerufen werden, lieber noch ein bisschen draußen bleiben, noch ein bisschen spielen.«

Foto: ADN-ZB Mittelstädt, Bundesarchiv, Bild 183–1989–1219–034 / CC-BY-SA 3.0

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