Die Sehnsucht der Sozialdemokratie und das Medienecho
Nach dem Basisvotum bei der SPD wird die Frage, was künftig noch »Sozialdemokratie« bedeuten kann, kaum gestellt. Ein Blick in die Zeitungen nach dem Paukenschlag Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans.
Historischer Einschnitt, Selbstaufgabe der SPD, Sieg des ideologischen Fundamentalismus — wenn die Zukunft der Sozialdemokratie vom Medienecho abhinge, sie dürfte nach diesem Samstagabend auf keine mehr hoffen. Die meisten Kommentare und Analysen handeln von drohenden Turbulenzen, unterstreichen die angebliche Unbedarftheit der kommenden Parteispitze, gefallen sich in taktischen Ermahnungen.
Positiv gesehen würde man vielleicht sagen können, da kommt in den Kommentaren eben jene berechtigte Skepsis, gar Ratlosigkeit zum Ausdruck, die weiß, dass mit einem Personalwechsel noch gar nichts und allein mit einem Ausstieg aus der GroKo ebensowenig sich schon zum Besseren gewandt hätte. Die »eigentlichen« Probleme der SPD sind nicht an Namen oder Regierungskonstellationen gebunden. Genau in dieser Perspektive aber bleiben die allermeisten Kommentare: Wohl und Wehe der SPD werden an Namen und GroKo geheftet.
Nico Fried sieht auf SZ.de den Ausgang des Mitgliederentscheids als Teil eines großen Bildes »einer atemberaubenden und ganz allmählich besorgniserregenden Selbstzerstörungsmechanik im herkömmlichen Parteiengefüge«. Diese betrifft auch die CDU, auch die SPD sei »tief zerrüttet und nicht in der Lage, die Fliehkräfte zu kontrollieren«, die an ihr zerren. Zur kommenden Parteispitze heißt es, »sie haben keine Ahnung von der Führung einer Partei, ja kaum in Parteiämtern.« Nicht zuletzt wird die Basis als ein wenig deppert hingestellt: »Obwohl fast alle Bedingungen, die die Sozialdemokraten sich und dem Koalitionspartner damals selbst gestellt haben, erfüllt, manche sogar übererfüllt wurden, hat die Basis ihre Unzufriedenheit über die große Koalition nun an deren Protagonisten ausgelebt.« Schlussfolgerung: »Die SPD hat sich selbst besiegt.« Auch deshalb: »Die SPD ist sich selbst nicht gut genug.«
Worin ja eine spannende Frage liegt: Wie müsste sozialdemokratische Politik, auch in Regierungen, aussehen, damit sie auch der SPD als Gesamtpartei, also nicht nur den Funktionären, »gut genug« erscheint? Was wären das für Bedingungen, worin liegt die Sehnsucht der Mitgliedschaft, die hier und da als Trotzreaktion beschrieben wird? Christoph Hickmann meint auf Spiegel online, »das nicht einmal besonders knappe Ergebnis der Stichwahl« sei hieraus »logisch erklärbar«: »Das Establishment — oder das, was die Wähler dafür halten — bekommt die Quittung ausgestellt.« Oder anders gesagt: Brexittum, Trumpismus.
Diese Wertung wird ins Verhältnis gesetzt zu den Ergebnissen früherer sozialdemokratischer Regierungspolitik, etwa der Unzufriedenheit mit der Agenda. Auch spätere Koalitionen, bei der die SPD auf »Regierungshandwerk« setzte und »die Partei mit ihrer fast schon pathologischen Sehnsucht nach purer, unverfälschter Sozialdemokratie« allein ließ, werden angesprochen — und die Ernte in den Himmel gelobt. Hickmann spricht von »sensationell viel sozialdemokratische Politik«, die in den beiden letzten Großen Koalitionen möglich gewesen sei.
Auch hier taucht sie auf, die sozialdemokratische Sehnsucht nach mehr, diesmal als Treibstoff für eine »Quittung«, deren Folgen dann aber vor allem auf kurze Sicht befragt werden: »Was heißt das nun, zum Beispiel für die Große Koalition?« Oder: »Und wenn es zur Neuwahl kommt?« Darüber könnte man mehr oder weniger lustige Prognosen abgeben, zur Frage jener sozialdemokratischen Sehnsucht dringt man aber damit nicht vor. Das tun übrigens auch jene kaum, die das Basisvotum für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als Chance — die wievielte ist es eigentlich — für einen, nun aber wirklichen Neubeginn — der wievielte wäre es eigentlich — ansehen. Man wird es nicht überraschend nennen, dass diese Perspektive am Morgen danach eher die Minderheit bildet.
Tobias Peter meint bei rnd.de, »jetzt ist genau das passiert, was sich viele im Parteiestablishment nicht vorstellen konnten oder wollten.« Und: »Das ist ein Bruch mit der SPD, wie wir sie bisher kannten.« Die SPD-Spitze habe sich »verrechnet«, sie hätte Olaf Scholz nicht in das Rennen gehen lassen dürfen, weil nun der Vizekanzler wie von den eigenen Leuten abgesägt erscheine. Die beiden kommenden Neuen müssten »zu einem klaren Kurs in Fragen der Großen Koalition finden«. Verbunden mit dem Hinweis, der SPD könne »im Fall rascher Neuwahlen ein tiefer Sturz drohen«, bleibt da nicht mehr viel Spielraum zum Lenken. Ein Ausstieg aus der GroKo? »Wenn sie die Regierungsverantwortung ohne guten Grund wegwirft…« Und so fortan.
Peter Carstens hat auf FAZ.net einen nicht ganz unwichtigen Gedanken dargelegt: Selbst wenn die SPD aus der GroKo springt und die SPD-MinisterInnen ihre Ämter verlassen würden, muss es nicht zwingend zu Neuwahlen kommen. Angela Merkel könnte die Ressorts einfach neu besetzen, der Haushalt für 2020 ist soeben beschlossen, in Berlin könnte also auch vorübergehend eine Minderheitsregierung regieren. Neben Thüringen wäre dann auch auf Bundesebene über eine wahrscheinlich normale Konstellation der Zukunft zu reden, wäre auszuloten, was das für die Tagespolitik und letzten Endes auch für den Zustand der SPD heißt.
Frank Pergande holt das große Besteck in der »FAS« heraus: »Die SPD schafft sich ab.« Richtig ist seine Beschreibung: »Das langwierige und teure Verfahren, das die Partei damit nach dem Rücktritt von Andrea Nahles gewählt hat, hat den Sozialdemokraten allerdings überhaupt nichts gebracht. Weder haben sich bisher die Wahlergebnisse verbessert, noch ist ein Ruck durch die SPD gegangen. Auch die Verhältnisse in der Partei haben sich nicht verändert. Die Intriganten haben ihre Posten nicht verloren.« Mona Jäger sieht in derselben Sonntagszeitung voraus, »es wird zum offenen Streit mit der Bundestagsfraktion kommen, die mehrheitlich in der Regierung bleiben will«. Richtig ist Pergandes der Hinweis, dass die SPD noch immer ihre eigene Rolle, ihre Möglichkeiten mit den Gewichtsmaßen der Vergangenheit bemisst — sie ist »längst eine kleine Partei«. Jedenfalls eine kleinere, und der künftige Ort »des Sozialdemokratischen« ist vielleicht auch nicht der eines dominierenden Platzhirsches, sondern der einer progressiven Kraft mit besonderem Charakter, mit speziellen Zielen, die im Konzert mit anderen progressiven Kräften und deren Schwerpunkten wirksam werden kann.
Veit Medick und Christian Teevs analysieren auf Spiegel online die Lage ebenfalls mit kurzem Fernrohr, »viel wird nun auch davon abhängen, ob es Walter-Borjans und Esken gelingt, die Partei hinter sich zu bringen. In der Bundestagsfraktion, im Kabinett, unter den Ministerpräsidenten — überall im SPD-Establishment ist das Entsetzen über das Ergebnis groß.« Wer dann und wie welche taktische Rolle spielen könnte, all das mag wichtig sein für die Schrittfolgen der kommenden Tage und Wochen, es könnte aber sein, dass für die Frage der Zukunft der Sozialdemokratie darin gar keine Antworten liegen.
Zwischen beiden Horizonten — dem sehr nahen der parteipolitischen und koalitionären Moves und dem doch eher in Jahren, vielleicht Jahrzehnten zu bemessenen der Suche nach einer Idee für Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert — lässt sich nur schwer eine Brücke schlagen. Und natürlich ist es zuvörderst Aufgabe des medialen Kommentariats, die unmittelbaren Folgen zu besichtigen und zu bewerten.
Die Schwierigkeit liegt darin, dass das Reden über die Folgen für die Tagespolitik auch das Nachdenken über die mittelfristigen Optionen sozialdemokratischer Erneuerung beeinflusst. Wer sich die Analysen an diesem Sonntagmorgen durchliest, findet dort jede Menge sprachliche Pflöcke, an denen, einmal in den Boden der Öffentlichkeit eingeschlagen, noch sehr lange die Debatte prägende Wortwimpel flattern werden.
Es ist kein dummer Gedanke, der SPD anzuraten, jetzt nicht einfach aus der Koalition herauszuhüpfen, weil damit nicht viel gewonnen wäre. Für die (nachvollziehbare) Erwartung, der Glaubwürdigkeit sozialdemokratischer Erneuerung würde es helfen, sich in der Opposition zu sammeln, gibt es nicht gerade viel empirisches Stützwerk. Die Erwartung ist zudem an sehr unterschiedliche politische Idee gekoppelt, ab wann eine SPD wieder »als richtig links« gelten könne, wann »Erneuerung« erfolgreich vollzogen wäre. Taktisch fallen einem schnell drei Gründe ein, warum der SPD in der gegenwärtigen Lage — klimapolitische Themenhoheit, schwache Wahlergebnisse, polarisiertes Meinungsbild sowohl inner- wie außerhalb der Partei — nicht eben zu Neuwahlen streben sollte.
Davon eher unabhängig steht die Frage nach dem »sozialdemokratischen Möglichen«, danach, zu welcher Politik die SPD finden müsste, die ihrer Ur-DNA entspricht. Was hieße es denn, sich nicht weiter als Lieferdienst »guter Gesetze« für als KundInnen missverstandene WählerInnen zu positionieren, sondern wieder zu einer Idee von Gesellschaftsgestaltung zurückzufinden, zu einem weiter in die Zukunft ausgreifenden Rahmen, in dem einzelne Projekte zu etwas gemeinsamem Größeren werden? Wo ist das sozialdemokratische Versprechen, die »Erzählung« von einer anderen Zukunft? Welche Schritte unter welchen (neuen) ökonomischen, globalpolitischen, räumlichen Bedingungen sind möglich?
Die Krise der Sozialdemokratie, von der die Krise der SPD ein Ausdruck ist, nicht umgekehrt, hat Vorläuferinnen. Sie traten auf, wenn sich die großen gesellschaftlichen Bedingungen, in denen und zu deren Veränderung Politik betrieben wird, umfangreichen Wandlungen unterworfen waren. Wenn sich Produktionsweise, Klassenzusammensetzung, wenn sich der politische Ausdruck ökonomischer Widersprüche, wenn sich eingeübte Kulturen des Demokratischen ändern, stehen diese Krisen an. Sowohl der nahe Horizont der SPD-Tagespolitik als auch der weite Horizont sozialdemokratischer Erzählungen sind von diesen Krisen beeinflusst. Heinrich Geiselberger hat auf die Notwendigkeit hingewiesen, diese beiden Horizonte »auseinanderzuhalten und den Konflikt zwischen ihnen zu verstehen«. Auch deshalb, weil das eine, die nächsten Schritte der SPD in den kommenden Wochen, Monaten, und das andere, die Zukunft des Sozialdemokratischen, in einem Verhältnis zueinander stehen.
Dieses wechselseitige Aufeinandereinwirken wird aber missverstanden, wenn es nur von der einen Seite her beguckt wird. Für »Tagesschau.de« kommentiert Ellis Fröder, »heftiger hätte es nicht kommen können. Wofür steht jetzt die SPD?« Ja, das ist eine gute Frage, aber die Antwort liegt eben nicht allein in der viel kurzer greifenden Frage ob vielleicht »die Große Koalition nun vorzeitig beendet wird. Dann erst werden wir vielleicht erfahren, wie die SPD der Zukunft aussehen soll — und ob sie überhaupt noch eine hat.«
Stefan Reinecke hat in der »Tageszeitung« die Wahl von Esken und Walter-Borjans als einen »historischen Einschnitt« bezeichnet. Das ist wohl war. Dass in der Unterzeile vor Turbulenzen gewarnt wird, »wenn sie irreale Forderungen druchprügeln«, darf man eine seltsame Formulierung finden. Man wird zu ihr neigen, wenn man »12 Euro Mindestlohn sofort, eines neues Klimapaket, massive Investitionen, Schluss mit der Schwarzen Null« als »ziemlich vollmundig formulierte Ansprüche« ansieht. Aber das ist Beiwerk, darüber, was in der GroKo durchsetzbar wäre, wo die SozialdemokratInnen Sollbruchstellen suchen sollten oder nicht, darüber wird in den kommenden Wochen noch viel gesprochen werden.
Reinecke macht den entscheidenden Punkt woanders. Denn das mehr oder minder aufs Taktische reduzierte Politikbeobachten »verblasst angesichts der zentralen Frage: Es ist klar, was die SPD Basis nicht mehr will, aber schwer zu erkennen, was will sie. Was kommt jetzt?«
Die Frage wird negativ von Thorsten Jungholt in der »WamS« beantwortet: »Vor zwei Jahren noch hatte die Vernunft obsiegt. Die Mitglieder der ältesten Partei Deutschlands stimmten damals mit klarer Mehrheit für den erneuten Eintritt in die große Koalition — entgegen der Gefühlslage in der Sozialdemokratie.« In dieser Optik darf die SPD nie über »staatstragende« Entscheidungen hinauswollen, ja nicht einmal denken. Es ist der Sound einer politischen Selbstmaßreglung, die dem Motto folgt: »Erst das Land, dann die Partei.« Als »das Land« sind hier dann meist die Interessen des Standortes gemeint, die als Interessen aller beschönigt werden, weil geglaubt wird, dass eine erfolgreiche »deutsche Wirtschaft« auch die Boote der anderen irgendwie ein bisschen wird heben. Oder, noch einmal Jungholt: Die Sozialdemokratie »möchte nicht mehr pragmatisch gestalten, sondern ideologischen Fundamentalismus betreiben. Die SPD will nicht mehr die soziale Marktwirtschaft, sondern den demokratischen Sozialismus.«
Ja, wenn es doch so wäre, mag man da ausrufen. Aber das Wort bleibt einem auch dann ein bisschen quer im Halse stecken, wenn man darin eine positive Wendung sehen möchte. Denn der hier als Drohvokabel eingesetzte »demokratische Sozialismus« hat sich die selben Fragen zu stellen wie das Prinzip Sozialdemokratie: Was ist das Ende des Jahres 2019, welche Hebel und Grenzen gibt es in Zeiten globaler kapitalistischer Ökonomie, mit welchen BündnispartnerInnen kommt man dem näher, was heißt das für die unmittelbaren Politikziele, die den ferneren Wünschbarkeiten ja entsprechen müssen, ihn en nicht entgegenstehen dürfen?
Sebastian Puschner hat im »Freitag« das Votum für Esken und Walter-Borjans als »Ausdruck einer beachtlichen Entwicklung in der Partei« bezeichnet. »Die Mehrheit glaubt nicht mehr daran, was die Oberen verkünden: Dass eigentlich schon alles auf gutem Wege sei.« Über die Hoffnung, »dass eine Neuausrichtung der SPD« nur jenseits der »Fesseln« der Großen Koalition möglich sei, ist bereits etwas gesagt worden. Richtig ist der Hinweis, »dass der Mut« zu den daraus zu ziehenden, besser: zu allen Schlussfolgerungen »bei weitem noch nicht alle Sozialdemokrat*innen erfasst hat«. Was heißt das? Was wäre das Künftige, wenn es stimmt, dass der Samstagabend der »Anfang vom Ende der ›Mit-uns-wird-es-nur-langsam-schlimmer‹-Sozialdemokratie« gewesen sein soll.